
Haben Sie schon einmal 100 Millionen Sonnenblumenkerne auf einmal gesehen? Keine echten, sondern „made in China“ aus handbemaltem Porzellan, Symbol für das Zeitalter der Globalisierung und Massenproduktion und gleichzeitig ein Hinweis auf Mao, der sich als Sonne sah, auf die sich alle Chinesen wie Sonnenblumen ausrichten sollten? Die „Sunflower Seeds“, ausgebreitet auf fast 800 Quadratmetern, waren in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20 und K21, zu bestaunen – zusammen mit weiteren spektakulären Installationen, Videos, Fotos und Plastiken in der großartigen Schau „Ai Weiwei“.
Kunst und Politik
„Everything is art. Everything is politics“ so bringt der international bekannte chinesische Gegenwartskünstler Ai Weiwei das Grundprinzip seiner Arbeitsweise auf den Punkt. Dieses Motto „Alles ist Kunst, alles ist Politik“ ist auch Leitmotiv der umfangreichen Ausstellung in Düsseldorf. Im Mittelpunkt steht dabei die enge Verzahnung von politischem Engagement und künstlerischer Arbeit Ai Weiweis. „Als Aktivist ist er Künstler und als Künstler ist er Aktivist. Mit dieser Erweiterung seines Kunstbegriffs, bei dem politisches und künstlerisches Handeln nicht zu trennen sind, steht Ai Weiwei sicherlich den Gedanken von Joseph Beuys sehr nahe. Das macht unsere Ausstellung – gerade auch hier in Düsseldorf – so bedeutsam“, erklärt die Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Susanne Gaensheimer.

Mit seinen regimekritischen Äußerungen gegenüber der Regierung in China und als lange verfolgter Dissident wird Ai Weiwei zumeist als politischer Kunst-Aktivist wahrgenommen. Seine kritische Haltung brachte ihm 81 Tage Haft ein. Die Erinnerung daran hat er in der Installation „S.A.C.R.E.D“ festgehalten. In sechs Eisenboxen, aufgestellt im Untergeschoss des K21, erblickt man durch einen Sehschlitz verstörende Szenen aus seinem Gefängnisalltag, leicht verkleinert naturgetreu dargestellt.
Menschliche Krise Migration

In seinen jüngsten Arbeiten beschäftigt sich Ai Weiwei mit Migration als Massenphänomen und Beispiel einer grundsätzlichen menschlichen Krise. Dieses Thema zeigt sich im K21 in der monumentalen Arbeit „Life Cycle“ (2018). Über 17 Meter misst die fragile, fast transparente Skulptur aus Bambus und Sisalgarn. Sie stellt eine Vielzahl von Figuren in einem Schlauchboot dar, wie es von vielen Geflüchteten bei der lebensgefährlichen Passage über das Mittelmeer benutzt wird. Einige ihrer Köpfe haben sich in Figuren der chinesischen Tierkreiszeichen verwandelt. Sie verweisen metaphorisch auf das Ausmaß dieser menschlichen Krise ebenso wie auf den Kreislauf menschlichen Lebens.

Auch die Installation „Laundromat“ widmet sich auf berührende Weise dem Thema Flucht. Sie entstand vor dem Hintergrund der Geschehnisse im griechischen Flüchtlingslager Idomeni, deren Zeuge Ai Weiwei war, als er seinen abendfüllenden Dokumentarfilm „Human Flow“ drehte: Zu sehen sind gereinigte, gebügelte und sortierte Kleidungsstücke, zurückgelassen von den Bewohnern bei der Schließung des Lagers 2016 – ein verstörender Anblick.
Zwei Schüsselwerke

In den beiden großen Ausstellungshallen des K20 sind zwei Schlüsselwerke von Ai Weiwei „Straight“ und zum ersten Mal in ihrer vollständigen Form gemeinsam in einer Ausstellung zu sehen. „Sunflower Seeds“ wurde 2010 in der Turbinenhalle der Tate Modern in London gezeigt und ist in Düsseldorf nun zum ersten Mal wieder vollständig aufgebaut. Rundherum zu sehen: Wieder die zwölf chinesischen Tierkreiszeichen, diesmal unter dem Titel „Zodiac“ als großflächige Pop-Art-Bilder, die bei genauerem Hinsehen aus Legosteinen gefertigt sind.
Die noch nie zuvor in Europa komplett gezeigte Installation „Straight“ besteht aus 164 Tonnen Armierungseisen, die Ai Weiwei nach dem verheerenden Erdbeben von Sichuan 2008 aus eingestürzten Schulgebäuden bergen ließ. Tausende Schulkinder verloren damals ihr Leben unter den Trümmern. In einem zeitaufwendigen Prozess wurden die verbogenen Stahlstäbe wieder geradegebogen und zu einer Landschaft modelliert. Für K20 hat Ai Weiwei eine neue Anordnung von „Straight“ entwickelt, die das Material aus Sichuan in seiner Gesamtheit präsentiert. Dazu sind die Namen der getöteten Kinder an den Hallenwänden zu lesen.

Ai Weiwei, 1957 in Beijing geboren, wird weltweit als Künstler, Architekt, Kurator, Filmregisseur und Fotograf gefeiert. Als Sohn des berühmten Dichters Ai Qing wuchs er während dessen Verbannung in Nordchina auf und kehrte 1976 mit der Familie nach Beijing zurück. Die während seiner Zeit in New York in den 1980er Jahren gewonnenen Eindrücke von Konzeptkunst und Pop Art hat er für seine Arbeitsweise fruchtbar gemacht.
Autorin: Ildikó Schiller-Hetzenecker


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