Plastik: Die Welt neu denken

Plastik prägt unseren Alltag wie kaum ein anderes Material: von der Verpackung bis zum Turnschuh, vom Haushaltsgerät bis zum Möbel, von Autos bis zur Architektur. Jahrzehntelang haben Kunststoffe die Vorstellungskraft von Designer/innen und ArchitektInnen beflügelt, sie standen für unbeschwerten Konsum und revolutionäre Neuerungen.

Doch diese Zeiten sind vorbei, denn die Folgen des Kunststoff-Booms sind drastisch sichtbar geworden. Mit der Ausstellung untersucht das Vitra Design Museum die Geschichte, Gegenwart und Zukunft eines kontroversen Materials – vom rasanten Aufstieg der Kunststoffe im 20. Jahrhundert über ihre verheerenden Folgen für die Umwelt bis hin zu Lösungsansätzen für einen nachhaltigeren Umgang mit Plastik.

Zu den Exponaten gehören Raritäten aus der Frühzeit der Kunststoffe, spektakuläre Objekte der Pop-Ära, aber auch zahlreiche aktuelle Entwürfe und Projekte, darunter pragmatische Innovationen, Projekte zur Säuberung der Weltmeere sowie Bioplastik auf Basis von Algen oder Pilzzellen.

Zum Auftakt der Ausstellung veranschaulicht eine großformatige Filminstallation, welche Konflikte sich aus der Produktion und Nutzung von Plastik ergeben. Zeitlosen Szenen urwüchsiger Natur stehen Filme über die Kunststoffproduktion der letzten 100 Jahre gegenüber, die die Verlockung einer immer schnelleren getakteten und günstigeren industriellen Herstellung deutlich machen. Über 200 Millionen Jahre dauerte die Entstehung der fossilen Rohstoffe Kohle und Erdöl, die die Grundlage aller synthetischen Kunststoffe bilden, doch in kaum mehr als einem Jahrhundert wurde daraus eines der größten globalen Umweltprobleme unserer Zeit. Was einst die Demokratisierung von Konsum versprach, mündete in einer beispiellosen Wegwerfmentalität.

Der zweite Abschnitt der Ausstellung führt durch die Geschichte der Kunststoffe von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Er beginnt mit einem Rückblick auf wichtige Vorläufer, von denen viele noch auf pflanzlichen und tierischen Rohstoffen basierten. So besteht das einst für Dekorationsobjekte und Seekabelisolierungen verwendete Guttapercha aus dem eingedickten Saft des gleichnamigen Baumes, während Schellack für die ersten Schallplatten aus den Ausscheidungen der Schildlaus gewonnen wurde. Die Frühzeit der Kunststoffe war eng mit dem Kolonialismus verbunden, da westeuropäische Kolonialmächte für die natürlichen Ausgangsprodukte Wälder in afrikanischen und südostasiatischen Kolonien ausbeuteten. Der erste vollsynthetische Kunststoff wurde 1907 von Leo Baekeland erfunden, trug den Namen Bakelit und galt schon bald als »Material der unbegrenzten Möglichkeiten«: Wegen seiner guten Isoliereigenschaften war Bakelit für Lichtschalter, Steckdosen, Radios oder Fernseher beliebt und spielte damit eine zentrale Rolle bei der Elektrifizierung des Alltags.

Während die ersten Kunststoffe oft von einzelnen Erfinderpersönlichkeiten entwickelt wurden, nahm ab den 1920er Jahren die rasch wachsende petrochemische Industrie eine führende Rolle ein. So begann eine Epoche, die die Ausstellung unter dem Begriff der »Petromoderne« zusammenfasst.

Auch der Zweite Weltkrieg trieb die Entwicklung von Kunststoffen voran – so wurden etwa Plexiglas für Flugzeugcockpits und Nylon als Material für Fallschirme erstmals in großem Maßstab verarbeitet.

Nach 1945 zogen diese Materialien in den Haushalt ein, etwa in Form von Plastikgeschirr und Tupperware, Spielzeug wie Lego und Barbie oder den beliebten Nylon-Strumpfhosen. Mit der zunehmenden Faszination für die Raumfahrt rückte einige Jahre später das utopische Potential von Plastik in den Vordergrund, dass sich in futuristischen Formen und neuen Wohnkonzepten widerspiegelte.

Beispiele in der Ausstellung sind Aero Aarnios ‚Ball Chair‘ (1963), Gino Sarfattis ‚Moon Lamp‘ (1969) oder ‚Toot-a-Loop‘ (1971) – ein Radio, das als Kunststoffarmreif getragen wurde.

Durch die Ölkrise 1973 wurde Erdöl als Basis für die meisten Kunststoffe kurze Zeit knapp und teuer, der Plastikboom wurde dadurch aber nur kurzfristig gebremst. Während die globale Kunststoffproduktion schon bald wieder Schwung aufnahm, setzten sich Bestrebungen zur Vermeidung oder Wiederverwendung von Plastik nur langsam durch.

DesignerInnen wie Jane Atfield zählten in den 1990er Jahren zu den Ersten, die mit recycelten Kunststoffen arbeiteten und daraus eine neue Ästhetik ableiteten. Dies lenkte den Blick auch darauf, dass Plastik nicht gleich Plastik ist: Heute gibt es eine unendliche Vielfalt an Kunststoffen mit unterschiedlichsten Eigenschaften, mit denen man sich bei Recyclingprozessen auseinandersetzen muss. Gleichzeitig haben sich die Folgen des Kunststoffbooms in unser kollektives Bewusstsein eingebrannt: von Mikroplastik in Böden, Ozeanen und unserem Körper bis hin zu Bergen von Verpackungsmüll, der oft in Ländern des globalen Südens entsorgt wird und dort nicht selten massive ökologische Schäden anrichtet.

Was muss sich ändern?
Wie können wir die globale Plastikmüllkrise bewältigen?
Welche Rolle kann dabei – neben Industrie, Politik und KonsumentInnen – das Design spielen?

Diesen Fragen widmet sich der dritte Teil der Ausstellung. Hier werden Projekte wie ‚The Ocean Clean Up‘, ‚Everwave‘ und ‚The Great Bubble Barrier‘ vorgestellt, die Plastikabfälle aus Flüssen und Weltmeeren filtern sollen. Doch natürlich muss die Reduktion von Plastikabfall schon viel früher beginnen, etwa mit der Vermeidung überflüssiger Verpackungen und Einwegprodukten sowie einem Designansatz, der den gesamten Lebenszyklus eines Produkts und der dafür verwendeten Materialien berücksichtigt.

Ein Beispiel ist der ‚Rex Chair‘ (2011/2021) von Ineke Hans, den der Hersteller nach Gebrauch gegen Pfand zurücknimmt, falls möglich repariert und ansonsten recycelt. Dass es nicht nur um einzelne Produkte, sondern um das Design ganzer Kreislaufsysteme geht, zeigt die Ausstellung anhand der gewöhnlichen Trinkflasche: Erst das Zusammenspiel mit Infrastrukturmaßnahmen wie Pfandsystemen oder Trinkwasserbrunnen kann dazu beitragen, das hohe Aufkommen von Einwegplastik zu reduzieren.

Infrastruktur und gesetzliche Rahmenbedingungen spielen auch beim Thema Recycling eine entscheidende Rolle, dem ein eigener Ausstellungsbereich in der Vitra Design Museum Gallery gewidmet ist. Hier können die BesucherInnen in einem interaktiv angelegten Raum
Recycling-Kreisläufe kennenlernen und anhand des Projekts ‚Precious Plastic‘ (seit 2013) des niederländischen Designers Dave Hakkens erleben, wie wertvoll und inspirierend recycelter Plastik als neuer Rohstoff sein kann Ähnlich wie in der Frühzeit der Kunststoffe arbeiten heute wieder viele ForscherInnen und Designer-/innen an Materialien, die nicht aus fossilen sondern aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen, besser abbaubar sind und oft als Bioplastik bezeichnet werden.

Als Beispiele zeigt die Ausstellung Experimente mit Algen der holländischen DesignerInnen Klarenbeek & Dros, Forschungen zu Myzelien (Pilzzellen) des Karlsruhe Institute of Technology und weitere faszinierende Ansätze. Während etwa das britische Start-up Shellworks an der Produktion von Kunststoffen durch Bakterien forscht, untersuchen die University of Portsmouth und die ETH Zürich den biologischen Abbau von Plastik durch Enzyme.

In der Zusammenschau zeichnet die Ausstellung ein kritisches, aber auch differenziertes Bild des Materials Plastik. Eigens für die Ausstellung geführte Interviews mit Designer-/innen, Wissenschaftler-/innen und Aktivist-/innen zeigen, wie wichtig bei der Lösung des Plastik-Problems die gemeinsame Anstrengung von Politik, Industrie und Forschung ist und wie sich dabei jeder persönlich engagieren kann. Eine einfache Patentlösung wird es nicht geben, vielmehr geht es um die Kombination zahlreicher Veränderungen.

Umso wichtiger ist das Verständnis für das große Ganze, das die Ausstellung vermitteln will: wie wir in die Abhängigkeit von Kunststoffen geraten sind, wie wir uns daraus befreien und wie wir Kunststoffe intelligenter und nachhaltiger nutzen können.

Nach der Präsentation im Vitra Design Museum in Weil am Rhein wird die Ausstellung im V&A Dundee (29.10.2022 – 05.02.2023) und im maat, Lissabon (Frühling 2023) gezeigt.

Ausstellung 26.03.-04.09.2022, Vitra Design Museum, Weil am Rhein,
http://www.design-museum.de

Bilder
Oben: Foto von Peter Stackpole für einen Artikel über »Throwaway Living«, veröffentlicht in der Zeitschrift LIFE, 1. August 1955 © Getty / Foto: Peter Stackpole
oben li 1: Edward Hack, Ananas-Sirupflasche, ca. 1958; mit freundlicher Genehmigung von Museum of Design in Plastics, Arts University Bournemouth / re: Panasonic Toot-a-Loop R-72S Radio, 1969–72 © Vitra Design Museum, Foto: Andreas Sütterlin,
Oben li 2: Eero Aarnio, Pallo / Ball Chair, Globe Chair, 1963 © Vitra Design Museum, Foto: Jürgen Hans
Mitte oben: li: The Ocean Cleanup, Besatzung sortiert Plastik an Deck nach Müllbergung durch System 002, Oktober 2021 © The Ocean Cleanup / re: Precious Plastic, geschredderter Kunststoff; mit freundlicher Genehmigung von Precious Plastic,
Mitte unten: li:  18 Precious Plastic Maschinen der Version 4 inklusive Schredder, Extruder und Plattenpresse; mit freundlicher Genehmigung von Precious Plastic /

Mitte re: The Ocean Cleanup, System 002 im Einsatz für Tests im Great Pacific Garbage Patch, 2021 © The Ocean Cleanup
Unten re: Ineke Hans, REX chair, 2021 © VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Vitra Design Museum, Foto: Andreas Sütterlin /

unten li:  Bär+Knell, Müll Direkt, 1994 © Vitra Design Museum, Foto: Jürgen Hans,