
Im Zentrum von Alberto Giacomettis (1901–1966) Werk steht der Mensch. Zeitlebens verfolgte der Künstler das Ziel, den lebendigen Ausdruck seines Gegenübers einzufangen und die menschliche Erscheinung in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Im Fokus standen Werke aus seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten, als er bereits seinen reifen Stil entwickelt hatte. Die Ausstellung im Kunstmuseum Ravensburg lenkt den Blick auf die selten gezeigten Zeichnungen und Grafiken des Künstlers, die durch Skulpturen, Malereien und dokumentarische Aufnahmen ergänzt werden.

Kubismus und Surrealismus orientierten Schaffensphase widmete sich Alberto Giacometti ab Mitte der 1930er-Jahre erneut der Darstellung der menschlichen Gestalt und des Kopfes. Sein Versuch, die menschliche Erscheinung so wiederzugeben, wie er sie sah, führte zu einer über 10 Jahre andauernden Schaffenskrise, in der Giacomettis radikal verkleinerte, auf überdimensionierten Sockeln platzierte Plastiken entstanden.
Ab 1946 findet Giacometti mit seinen in die Länge gestreckten, spindeldürren Figuren zu dem künstlerischen Ausdruck, der ihn weltberühmt machen wird. So kennzeichnen auch die Bronzen Femme debout, figurine (1947) und Figurine au grand socle (1955) die für sein Spätwerk charakteristischen Merkmale: strenge Frontalität, eine bewegte Oberflächenstruktur ohne Detailausbildung und eine schemenhafte Erscheinung. Indem die Figuren nur als Ganzes wahrgenommen werden können, bestimmen sie selbst den Raum.

Eine ähnliche Auflösung der Gestalt, die das Individuum hinter einem allgemeingültigen Bild des Menschen zurücktreten lässt und den Menschen als flüchtige Erscheinung in der Leere des ihn umgebenden Raumes zeigt, findet sich ebenso in den zahlreichen Malereien und Zeichnungen wie schreitender Frauenakt und Figur in der Ferne I (1960). Auch in der berühmten Skulptur La cage (1950) wird das Verhältnis von Figur und Raum thematisiert. Mit seinen auf den Wesenskern reduzierten Figuren, die die Fragilität der menschlichen Existenz spiegeln, traf Giacometti nach dem Zweiten Weltkrieg den Nerv der damaligen Zeit. Durch die Texte von Jean-Paul Sartre avancierte er zum existenzialistischen Künstler schlechthin.

Zu Alberto Giacomettis bevorzugten Modellen gehörten seine engsten Vertrauten, seine Frau Annette, sein Bruder Diego und seine Mutter, wie zahlreiche Arbeiten auf Papier und die Büste Diegos (1955) verdeutlichen. Giacometti strebte danach, keine abbildhafte, sondern eine wesenhafte Ähnlichkeit der Porträtierten zu erzeugen. Dabei galt sein Fokus dem Blick. Wie das Netz nervöser Striche offenbart, strebte er in permanenter Überarbeitung danach, die lebendige Präsenz im Blick des Gegenübers festzuhalten.
Trotz des steigenden Erfolgs ab Mitte der 1950er-Jahre hat Giacometti sein spartanisches Atelier im Künstlerviertel Montparnasse in Paris, das er 1926 bezogen hatte, nie aufgegeben. Zahlreiche seiner Zeichnungen und Druckgrafiken geben Einblick in diesen sagenumwobenen Ort, während Aufnahmen berühmter Fotograf-/innen – wie u. a. von Ernst Scheidegger, Robert Doisneau und Henri Cartier-Bresson – von der Anziehungskraft zeugen, die die Person Giacomettis und sein Atelier ausübten.
Er war eine feste Größe in den intellektuellen und künstlerischen Kreisen im Paris der Nachkriegszeit, wie die Porträts befreundeter Weggefährt-/innen verdeutlichen. Eine Miniaturbronze zeigt die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir, das malerische Porträt von Patricia Matisse (1947), der Ehefrau des Galeristen Pierre Matisse, entstand während der Vorbereitungen zu Giacomettis Einzelausstellung in New York, die ihm zum internationalen Durchbruch verhalf. Zu den Modellen aus dem Pariser Kunstbetrieb gehörten ebenso der renommierte Kurator und Kritiker David Sylvester (1963), Giacomettis Biograf James Lord (1954), der berühmte Verleger und Kunsthändler Tériade (um 1960) und sein Künstlerkollege Henri Matisse (1954). Giacomettis unkonventioneller – Wohlstand und Bequemlichkeit ablehnender – Lebensstil sowie das von ihm proklamierte ewige Scheitern faszinierten viele Zeitgenossen. Seine radikal selbstkritischen Überprüfungen waren für Giacometti bis zu seinem Tod 1966 Antrieb zur kompromisslosen Weiterentwicklung seines Werks.
Kunstmuseum Ravensburg, http://www.kunstmuseum-ravensburg.de
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