Huguette Caland: A life in a few lines

Die Deichtorhallen Hamburg zeigen die Werke der libanesischen Künstlerin Huguette Caland (1931-2019), die ihr Leben selbst zum Ausgangspunkt ihrer Kunst machte: „Das Medium, das ich für meine Kunst verwende, ist größtenteils mein eigenes Leben. (…) Jeder einzelne Austausch, ein Blick, ein Lächeln, eine kurze Begegnung.“

Geboren wurde Huguette Caland in Beirut als einzige Tochter von Bechara El Khoury, dem ersten Präsidenten der Republik Libanon nach der Unabhängigkeit des Landes von Frankreich im Jahr 1943. Ihr Leben war von Anfang an politisch geprägt. Entsprechend intensiv verfolgte sie später von Paris aus den libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990). Dorthin war sie 1970 gezogen, um, wie sie sagte, als Künstlerin ‚ihre Flügel auszubreiten‘.

Ab 1987 lebte sie im kalifornischen Venice. Alle drei Städte hinterließen tiefe Spuren in ihrer künstlerischen Praxis, die von feministischer Autonomie und sexueller Freiheit durchdrungen war – auch wenn sie selbst diese Begriffe nie verwendete. Als Künstlerin und Frau lehnte sie es ab, sich kategorisieren zu lassen. Den Konventionen in der Kunst begegnete sie mit derselben subversiven Verspieltheit wie den gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit.

In ihrem vielgestaltigen Werken – Gemälden, Zeichnungen, Skulpturen, Collagen, Textilien und Texten – erforscht sie Formen der Selbstfindung in Beziehung zu anderen. Diese Beziehungen erscheinen in ihrer Kunst zugleich heiter und konflikthaft, unverstellt erotisch und tiefgründig.

Die in Kooperation mit dem Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía entwickelte Ausstellung bietet erstmals in Europa einen umfassenden Einblick in Calands Schaffen. In zehn Kapiteln erzählt die Ausstellung von einer Reise zwischen Kulturen und Kontinenten, die Caland von Beirut nach Paris, weiter nach Venice, L.A., und schließlich zurück nach Beirut führte. Während ihr Werk zu Lebzeiten nur begrenzt Beachtung fand, ist es heute in den Sammlungen der bedeutendsten Museen der Welt vertreten.

Die Ausstellung ist chronologisch aufgebaut und zeichnet Huguette Calands Leben und ihre künstlerische Entwicklung nach. Themen wie Körper, Erinnerung, Zugehörigkeit, Landschaft und Tod ziehen sich durch ihr gesamtes Schaffen, das zutiefst persönlich, dabei aber oft von entwaffnendem Witz geprägt ist. Huguette Caland entschloss sich erst spät – mit 33 Jahren –, Künstlerin zu werden. Ihre Kinder waren da schon Teenager, ihre Eltern verstorben. Davon erzählt das erste Kapitel der Ausstellung »Werden« mit ihrem ersten Gemälde, dem fast monochromen Red Sun/Cancer (1964), oder ihrem Selbstporträt Self Portrait in Smock (1992), das die Künstlerin fast dreißig Jahre später vor diesem früheren Werk zeigt.

Überraschend offen und humorvoll verhandeln in den folgenden Kapiteln die in Paris entstandenen Werkserien wie Flirt (1972) oder Homage to Pubic Hair (1992) Sexualität, Erotik und Körperlichkeit. Am bekanntesten ist die Serie Bribes de Corps aus den 1970er Jahren mit ihren zugleich abstrakten und äußerst sinnlichen Darstellungen von Augen, Mündern, Gesäßen, Schenkeln und anderen sich berührenden »Körperteilen«. Zur selben Zeit gestaltete Caland für den Pariser Designer Pierre Cardin eine Haute-Couture-Kollektion mit Kaftanen und Abayas. Schon in Beirut – als sie ihr Kunststudium aufnahm – hatte sie begonnen, frei fließende Gewänder für sich zu entwerfen, die arabische Modetraditionen mit grafisch-spielerischen Textildesigns kombinierten.

Huguette Caland sprach fließend Arabisch, Französisch und Englisch und beschäftigte sich intensiv mit Sprache im Hinblick auf Identität und Kommunikation. In ihrer Kunst nahm dies unterschiedliche Gestalt an. Schon in den frühen Arbeiten – wie Cobra (1967) oder Exit (1970) – entwickelte sie ein eigenes Alphabet aus Kurven, Punkten, Formen und charakteristischen Linien, mit Anklängen an die arabische Kalligrafie. Später entstanden Serien wie die Nude Letters (1991–1992), in denen sie Brieffragmente collagierte, oder Silent Letters (1999 bis 2006). Statt mit Worten füllte sie die Fläche mit Linien, zum Teil mit einem großen Pinsel auf eine auf dem Boden liegende Papier- oder Leinwandfläche gemalt.

Landschaften, einzelne Orte und urbane Räume sind ein weiteres Leitmotiv, angefangen von Kaslik (1968) oder Venice (1985) bis hin zu den Cityscapes (1998–2005): Letztere bilden einen Übergang zu den großformatigen, teppichartig wirkenden Werken ihrer letzten Schaffensphase. An diesen arbeitete sie immer in Teilstücken auf ihrem Schoß, sodass sie sich erst nach und nach zu einem Ganzen zusammensetzten. Gegen Ende ihres Lebens scheint Caland die Welt aus einer universellen, viele unterschiedliche Sichtweisen vereinenden Perspektive zu betrachten.

Mit rund 300 Werken aus internationalen Privatsammlungen und renommierten Institutionen – darunter eigens für die Deichtorhallen ergänzte Arbeiten aus dem Libanon – ist diese Retrospektive die erste umfassende Ausstellung Calands in Deutschland. Die Ausstellung wurde organisiert vom Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, in Zusammenarbeit mit den Deichtorhallen Hamburg. Im Anschluss wird sie im Hammer Museum in Los Angeles gezeigt. 

Ausstellung bis 26.04.2026, Deichtorhallen, Hamburg
http://www.deichtorhallen.de

Bilder:
Oben: re: Huguette Caland with large brush (Foto: Véronique Vial)
li: Homage to Pubic Hair, 1992, Courtesy of Huguette Caland Estate
Mitte: Enlève ton doigt [Remove your finger], 1971, Courtesy of Huguette Caland Estate
Unten: Rossinante Under Cover VII (Dragonfly), 2011, Courtesy of Huguette Caland Estate