The Bigger Picture: Design – Frauen – Gesellschaft

Die Ausstellung macht das Schaffen von Designerinnen über einen Zeitraum von 120 Jahren sichtbar. Gleichzeitig eröffnet sie mit ausgewählten Arbeiten ein offenes Forum für eine zukunftsgerichtete Diskussion mit Blick auf aktuelle Entwicklungen.

Es geht immer auch darum, genderspezifische und feministische Ansätze als Teil eines sozialen Wandels zu betrachten und diese als Blickweisen und Methoden verstehen, bei denen Fragen nach Genderverhältnis und Diversität sowie nach sozialer Gerechtigkeit in politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen in „das grosse Ganze“ miteingeschlossen werden. So will die Schau nicht nur die Leistungen von Frauen sichtbarer machen und soziale Dimensionen des Gestaltens einbringen, sondern fragt auch danach, wie wir unsere Welt künftig inklusiver und vielfältiger gestalten können.

Anhand einer Vielzahl hochkarätiger Exponate verfolgt die Ausstellung das kreative Schaffen und die Arbeitsbedingungen von Frauen im Design von der frühen Moderne bis in die Gegenwart – von ikonischen Objekten über bislang kaum bekannte Neuentdeckungen bis hin zu heutigen Aktivismus-Netzwerken und feministischer Designforschung. So entsteht eine Standortbestimmung zu einem gesellschaftlich hochaktuellen Thema, die das moderne Design in einem neuen Licht erscheinen lässt.

Gezeigt werden Werke von über 90 Designerinnen, darunter Protagonistinnen der Moderne wie Gunta Stölzl, Flora Steiger-Crawford, Eileen Gray, Charlotte Perriand oder Lilly Reich, aber auch internationale Unternehmerinnen wie Florence Knoll und Armi Ratia oder die Schweizerinnen Rosmarie Baltensweiler, Margrit Linck und Elisabeth Feller. Zeitgenössische Positionen sind durch Designerinnen wie Matali Crasset, Patricia Urquiola, Atelier NL, das Kollektiv Matri-Archi(tecture), die Schweizer Gamedesignerin Philomena Schwab oder auch die feministische Plattform Futuress vertreten.

Reform und Revolution 1900 – 1930

Im ersten Bereich liegt der Schwerpunkt auf der Entwicklung des Designs in Europa und den USA, wo um 1900 das Berufsbild des modernen Designs entstand – zur gleichen Zeit, als Frauen öffentlich für mehr politische Mitbestimmung kämpften. Diese Emanzipationsbestrebungen spiegelten sich auch im Design, etwa in der Arbeit der Sozialreformerinnen Jane Addams und Louise Brigham, die heute unter den Begriff ‚Social Design‘ fiele.

Auch die Werke von Gestalterinnen am Bauhaus, an den russischen WChUTEMAS (Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten) oder den Deutschen Werkstätten in Dresden-Hellerau werden untersucht. Eine bislang weitgehend unentdeckte Welt eröffnet sich an der Schule Loheland, die wie das Bauhaus 1919 gegründet wurde, aber nur Frauen aufnahm. Am Bauhaus studierten Frauen und Männer gemeinsam, wobei man Frauen meist noch bestimmten Disziplinen wie textiles oder keramisches Gestalten zuordnete. Hier wird verdeutlicht, dass sich Frauen in den Gestaltungsberufen aufgrund besserer Ausbildungsbedingungen zwar zunehmend professionalisierten, andererseits aber weiterhin oft in traditionelle Rollenbilder gedrängt wurden.

Mit Exponaten und Projekten von
Jane Addams/UK, Marianne Brandt/DE, Louise Brigham/US, Klara Fehrlin/CH, Bertha Günther/Lichtbildwerkstatt Loheland/DE, Louise Langgaard/Töpferei Loheland/DE, Ljubow Popowa/RU, Warwara Fjordorowna Stepanova/RU, Lux Guyer/CH, Gertrud Kleinhempel/DE, Alma Siedhoff[1]Buscher/DE, Warwara Fjordorowna Stepanova/RU, Gunta Stölzl/DE/CH, Edith Sutor/Töpferei Loheland/DE.

Pionierinnen der Moderne 1920 – 1950

Der zweite Ausstellungsbereich widmet sich den 1920er- bis 1950er-Jahren. In dieser Ära konnten Designerinnen wie Charlotte Perriand, Eileen Gray oder Clara Porset in der nach wie vor patriarchalischen Gesellschaft erste internationale Erfolge verbuchen. Einige der porträtierten Designerinnen arbeiteten eng mit ihrem Partner zusammen, etwa Ray Eames mit ihrem Mann Charles oder Aino Aalto mit Alvar Aalto sowie Flora Steiger-Crawford mit Rudolf Steiger.

Oft standen dabei die Frauen im Schatten ihrer Partner, doch die Ausstellung zeigt, dass sie in vielen Fällen deutlich wichtigere Beiträge zu dem gemeinsamen Werk leisteten als man bislang meinte. Bekanntestes Beispiel hierfür ist Charlotte Perriand: Ihre Bedeutung als unabhängige Designerin wurde in den letzten Jahren weithin publiziert, wobei auch ihr Anteil an den legendären Möbelentwürfen, die sie mit ihrem berühmten Kollegen Le Corbusier entwickelte, völlig neu bewertet werden musste.

Mit Exponaten und Projekten von
Aino Aalto/FI, Ray Eames/US, Eileen Gray/FR, Florence Knoll/US, Charlotte Perriand/FR, Trude Petri/DE, Clara Porset/CU/MX, Lilly Reich/DE, Flora Steiger-Crawford/CH, Eva Zeisel/HU/US.

In Bewegung 1950 – 1999

Der dritte Ausstellungsbereich thematisiert die Jahrzehnte von 1950 bis Ende der 1990er-Jahre, in denen insbesondere ab den 1960er-Jahren eine zweite Welle des Feminismus der konservativen Nachkriegsmentalität entgegentrat. Beispiele wie die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) von 1958 zeigen, dass Frauen auch im Design häufig mit häuslichen Tätigkeiten assoziiert wurden, trotz solcher Einschränkungen aber oft außerordentliche Werke produzierten.

Die Rollenbilder und die Möglichkeiten von Frauen im Design veränderten sich stetig weiter: Die Ambivalenz und die Umbrüche dieser turbulenten Ära spiegeln sich in den poppigen Marimekko-Designs der 1970er-Jahre oder den postmodernen, teilweise spektakulären Objekten italienischer Designerinnen wie Nanda Vigo, Gae Aulenti oder Cini Boeri. In diese Zeit fallen auch die sehr unterschiedlichen Positionen aus der Schweiz: der Leuchtendesignerin und Unternehmerin Rosmarie Baltensweiler, der Fabrikantin und Fotografin Doris Lehni Quarella, der Innenarchitektin und Wohnforscherin Verena Huber oder der Gründerinnen des Modelabels «Thema Selection», Sissi Zoebeli, Ursula Rodel und Katharina Bebié.

Mit Exponaten und Projekten von
Gae Aulenti/IT, Galina Balaschowa/RU, Rosmarie und Rico Baltensweiler/CH, Liisi Beckmann/FI, Susi und Ueli Berger/CH, Cini Boeri/IT, Sheila Levrant de Bretteville/US, Anna Castelli Ferrieri/IT, Johanna Dahm/CH, Nanna Ditzel/DK, Elisabeth Feller/Feller AG/CH, Carmen Greutmann Bolzern/CH, Helene Haeusler/DD, Trix & Robert Haussmann/CH, Margarete Jahny/DDR, Rei Kawakubo/JP, Sandra Kuratle/AMOK/CH, Verena Huber/CH, Martha Huber-Villiger/CH, Grete Jalk/DK, Doris Lehni Quarella/Lehni AG/CH, Margrit Linck/CH, Greta Magnusson/SE/US, Matrix Architecture Collective/UK, Greta von Nessen/SE, Libuše Niklová/CS, Nathalie Du Pasquier/FR, Berta Rahm/CH, Annika Rimala/Marimekko/FI, Martha Rosler/US, Nelly Rudin/CH, Tatiana Samoilova/RU, Enid June Seeney/UK, See Red Women’s Workshop/UK, Reiko Tanabe/JP, Thema Selection/CH, Massimo & Lella Vignelli/IT/US, Nanda Vigo/IT, Herta-Maria Witzemann/DEGae Aulenti/IT, Galina Balaschowa/RU, Rosmarie und Rico Baltensweiler/CH, Liisi Beckmann/FI, Susi und Ueli Berger/CH, Cini Boeri/IT, Sheila Levrant de Bretteville/US, Anna Castelli Ferrieri/IT, Johanna Dahm/CH, Nanna Ditzel/DK, Elisabeth Feller/Feller AG/CH, Carmen Greutmann Bolzern/CH, Helene Haeusler/DD, Trix & Robert Haussmann/CH, Margarete Jahny/DDR, Rei Kawakubo/JP, Sandra Kuratle/AMOK/CH, Verena Huber/CH, Martha Huber-Villiger/CH, Grete Jalk/DK, Doris Lehni Quarella/Lehni AG/CH, Margrit Linck/CH, Greta Magnusson/SE/US, Matrix Architecture Collective/UK, Greta von Nessen/SE, Libuše Niklová/CS, Nathalie Du Pasquier/FR, Berta Rahm/CH, Annika Rimala/Marimekko/FI, Martha Rosler/US, Nelly Rudin/CH, Tatiana Samoilova/RU, Enid June Seeney/UK, See Red Women’s Workshop/UK, Reiko Tanabe/JP, Thema Selection/CH, Massimo & Lella Vignelli/IT/US, Nanda Vigo/IT, Herta-Maria Witzemann/DE.

Das grosse Ganze 2000 – heute

Mit dem vierten Bereich kommt die Ausstellung in der Gegenwart an. Werke international etablierter Desig[1]nerinnen wie Matali Crasset, Patricia Urquiola, Inga Sempé, Ilse Crawford oder Hella Jongerius belegen, dass Frauen im Design heute ebenso selbstverständlich international erfolgreich sind wie Männer. Manche Designerinnen sprengen die etablierten Grenzen ihrer Disziplin und tragen massgeblich dazu bei, das Design neu zu definieren. Zu ihnen zählt Julia Lohmann, die Meeresalgen als neues, nachhaltiges Material erforscht, ebenso wie Christien Meindertsma, die Produktionsprozesse durchleuchtet oder Sarah Harbarth, die mit ihrem Schweizer Start-up Kuori nachhaltige Kunststoffe aus natürlichen Ressourcen wie Bananen und Nussschalen produziert. Zugleich präsentiert dieser Ausstellungsbereich neben den geläufigeren Bereichen wie Objekt- und Industriedesign auch neue und komplexe Designfelder wie Interaction Design und Game Design, oder Social Design sowie Educational Design und weitere. Designerinnen wie Philomena Schwab, Paulina Zybinska, Meret Wacker u.v.m. erweitern den Designbegriff.

Eine Auswahl aktueller Projekte veranschaulicht auch, wie der soziale oder feministische Diskurs in Design und Architektur die Muster von Autor:innenschaft, Ausbildung und Anerkennung hinterfragt und mit Diversität und Intersektionalität in Zusammenhang stellt. So thematisiert das Kollektiv Matri-Archi(tecture) in der eigens für die Ausstellung geschaffenen Arbeit «Weaving Constellations of Identity» die persönlichen Erfahrungen afrikanischer und schwarzer Designerinnen, während zahlreiche Netzwerke und Publikationen etablierte Narrative und Strukturen des Designs zur Diskussion stellen. Die feministische Plattform Futuress, die Forschungsprojekte Gender Salon und finally. betrachten, diskutieren und vermitteln gesellschaftliche Themen hinsichtlich Gender, Alter und kultureller Hintergrund und entwickeln Gegenentwürfe zu herkömmlichen Denkmustern

Mit Exponaten und Projekten von
5am Games/CH, Atelier NL/NL, Marjan van Aubel/NL, Birsel + Seck/US, BLESS eine GmbH/DE, Matali Crasset/FR, Ilse Crawford/Studioilse/UK, Annette Douglas Textiles AG/CH, finally./CH, Front/SE, Futuress/international, Catharina Grözinger/DE, Gunjan Gupta/IN, Hahn+Zimmermann/CH, Sarah Harbarth/Kuori/CH, Larissa Holaschke/Gender Salon/CH, Hyphen-Labs/UK/US/ES, Hella Jongerius und Louise Schouwenberg/NL, OAZA/HR, Barbara Kruger/US, Julia Lohmann/DE/FI, Matri Archi(tecture)/CH/international, Christien Meindertsma/NL, Selina Reiterer und Oliver Maclott/CH, Philomena Schwab/Stray Fawn Studios/CH, Inga Sempé/FR, Nao Tamura/JP/US, Sissel Tolaas/NO, Faye Toogood/UK, Zoë Urand und Roman Engler/Flink/CH, Patricia Urquiola/ES/IT, Völlm + Walthert/CH, Meret Wacker/CH, Paulina Zybinska/CH

Ausstellung bis 14.05.2023, Gewerbemuseum Winterthur, http://www.gewerbemuseum.ch

Bilder:
Oben: Blick in die Ausstellung «The Bigger Picture: Design – Frauen – Gesellschaft» im Gewerbemuseum Winterthur.

Foto: Bernd Grundmann
Rechts: Leben am Bauhaus: Gruppenporträt der Weberinnen hinter dem Webstuhl in der Weberei des Bauhaus Dessau, 1928

(Foto: unbekannt, Bauhaus-Archiv, Berlin)
Mitte: li: Die französische Architektin und Designerin Charlotte Perriand (1903–1999) auf der Chaise longue basculante, 1929.

Zusammenarbeit von Le Corbusier, Charlotte Perriand und Pierre Jeanneret
(2022, ProLitteris, Zurich; Le Corbusier: F.L.C./2022, ProLitteris, Zurich)
Mitte: re: Die US-amerikanische Designerin und Künstlerin Ray Eames (1912–1988) bei der Arbeit an einem Modell, 1950.

Zahlreiche Entwürfe von Designklassikern – zum Teil gemeinsam mit ihrem Ehepartner Charles Eames (Eames Office LLC)
Unten: li: Annette Douglas (*1971). Schweizer Textildesignerin, Unternehmerin, Annette Douglas Textiles AG.

Porträt mit transparentem Akustikvorhang (Foto: Stefan Rappo)
Unten: mi: Christien Meindertsma (*1980) mit dem mehrfach ausgezeichneten Flax Chair, 2015. Die als ‚investigative Designer‘

bezeichnete Niederländerin entwickelte aus Flachs mit unterschiedlichen Firmen
ein neues Material (Studio Aandacht)
Unten: re: Sarah Harbarth (*1996), Schweizer Designerin, Mitgründerin Cleantech Start-up Kuori.

Multidisziplinäres Projektteam. Porträt, Projekt: Von der Bananenschale zur Schuhsohle, 2022
(Kuori GmbH, Sarah Harbarth)