Der Modulor – Maß und Proportion

Die neue Saison im Pavillon Le Corbusier in Zürich startet mit einer Ausstellung zu Le Corbusiers weltbekannten Proportionssystem «Modulor». Die Verbindung von menschlichem Maßstab und Goldenem Schnitt kann denn auch im Pavillon selbst erlebt werden, diesen hat Le Corbusier ebenfalls integral mit seinem Modulor entworfen.

Form follows function lehrt uns die Moderne: Häuser und Gegenstände seien allein aus der Aufgabe heraus zu entwickeln. Umso erstaunlicher ist es, dass sich ausgerechnet Le Corbusier (1887– 1965), ein Fahnenträger der Avantgarde, sein Leben lang mit Idealmassen und Proportionssystemen auseinandersetzte.

Die Ausstellung ‚Der Modulor‘ illustriert seine leidenschaftliche Recherche, zeigt Vorbilder aus der Natur wie Schneckengehäuse oder Mineralien aber auch Anknüpfungspunkte aus der Kunstgeschichte von der Gotik bis heute. Höhepunkt dieser Suche ist die Entwicklung und Anwendung des legendären Modulor, der den menschlichen Maßstab mit dem Goldenen Schnitt verbindet. Le Corbusier perfektionierte die programmatische Modulor-Figur und deren geometrische Herleitung in unzähligen Versionen. Mithilfe seiner Massreihen realisierte er spektakuläre Entwürfe in der Gebrauchsgrafik, im Möbeldesign, im Städtebau und in der Architektur – darunter den Zürcher Pavillon, der integral mit dem Modulor proportioniert ist

Natur als Inspiration
Noch in seiner Schulzeit beginnt der junge Le Corbusier die Wachstumsgesetze der Natur zu studieren: Sein Lehrmeister Charles L’Éplattenier sagte: «Seule la nature est inspiratrice». Die Begeisterung für die Formen und Strukturgesetze der Natur wird das gesamte Werk Le Corbusiers durchziehen. 1939 etwa liefert die Spirale eines Schneckenhauses den Ausgangspunkt für sein Projekt für ein «unbegrenzt wachsendes Museum». Auch als Architekt und Künstler beginnt Le Corbusier, seine Bilder und Bauten mithilfe einfacher geometrischer oder arithmetischer Mittel zu harmonisieren. Die Flächendiagonalen und deren rechte Winkel werden zu einem unsichtbaren Gerüst, an dem er seine Kompositionen ausrichtet – der «tracé régulateur» erlaube «eine sehr grosse Präzision in der Proportionierung» und diene als Werkzeug zur Klärung der Gestaltungsabsichten

Der Modulor – vom Sitzmöbel bis zum Städtebau
Im Hinblick auf das erhoffte Ende des Zweiten Weltkriegs und dem damit verbundenen Wiederaufbau entwickelt Le Corbusier zwischen 1943 und 1945 ein eigenes Proportionssystem. Es gelingt ihm, die Proportionen des Menschen und den Goldenen Schnitt in eine geometrische Beziehung zu setzen und davon zwei Progressionen mit Maßen abzuleiten, die sich ergänzen und die alle für den Entwurf wichtigen Abmessungen des menschlichen Körpers enthalten. Indem er die Höhe der Modulorfigur auf sechs Fuss festlegt, überwindet er die Unvereinbarkeit des metrischen Maßes und des angloamerikanischen Fussmaßes und macht seine Proportionslehre damit zu einem universell einsetzbaren Werkzeug.

In all seinen Bauten ab 1946 setzt Le Corbusier den Modulor nun konsequent ein: Beispielsweise für die Fassaden der Fabrik Duval in Saint-Dié oder beim Kloster La Tourette, selbst der Grundriss der indischen Kapitale Chandigarh entwickelt er in Modulormassen. Vor allem in kleinerem Maßstab entfaltet der Modulor sein ganzes Potential, so bei Corbusiers legendärem Ferienhäuschen «Cabanon» am Mittelmeer oder dessen Inneneinrichtung.

Hermann Haller und René Burri
Im Untergeschoss des Pavillons Le Corbusier werden mit Bildern, Publikationen, Installationen und Modellen die wichtigsten Stationen in der Entwicklung des Modulors und seinen Anwendungen sichtbar gemacht. Im Obergeschoss des Pavillons findet sich nun die Rekonstruktion das bedeutende Paneel für die «Mostra di Studi sulle proporzioni» anlässlich der Nona Triennale 1951 in Milano. Ebenso wird die Neuauflage der legendären Lithografie «Modulor» in all ihren Druckstufen gezeigt. Im Erdgeschoss zeigt die Ausstellung einen völlig anderen Zugriff auf die menschliche Figur: Die Plastiken von Hermann Haller beeindrucken mit Variantenreichtum, Lebensfreude und Massstabssprüngen. Sie ermöglichen ein Entdecken dieses wichtigen Zürcher Künstlers, während sein Atelier in unmittelbarer Nachbarschaft zum Pavillon generalsaniert wird und darum 2023 nicht zugänglich ist

In der Bibliothek zeigt eine kleine Ausstellung 17 Arbeiten des Zürcher Magnum-Fotografen René Burri (1933–2016), die dieser als visueller Chronist von Le Corbusier zwischen 1955 und 1965 aufnahm. In der diesjährigen Kleinausstellung gilt der Fokus dem Kloster La Tourette mit seinen vielfältigen Anwendungen des Modulors.

Das Hauptexponat: der Pavillon Der Pavillon Le Corbusier wird seit seiner Eröffnung 1967 als Ausstellungsort betrieben, um das Werk und die Ideen Le Corbusiers einem breiten Publikum zu vermitteln. Die Besucherinnen und Besucher können den Pavillon selbständig begehen und entdecken. Auf rund 600 Quadratmetern und über vier Geschosse hinweg gewährt der Pavillon unterschiedliche Ein- und Ausblicke. Auch die kleine Dachterrasse mit freiem Blick auf das Zürichhorn und den See ist zugänglich.

Ausstellung bis 26.11.2023, Pavillon Le Corbusier, Höschgasse 8, Zürich, http://www.museum-gestaltung.ch/de/

Bilder:
Oben: li: Le Modulor, Lithografie, 1950/1956, Steindruckerei Wolfensberger, Zürich FLC/2022, ProLitteris, Zürich / re: Le Corbusier arbeitet an der Collage Le Modulor im Atelierraum seines Appartement-Ateliers in der Rue Nungesser et Coli, Paris, FR, Foto: Lucien Hervé, 1950, Fondation Le Corbusier, Paris, Getty Research Institute, Los Angeles;
Mitte: v.li. n. re.: Le Corbusier, Darstellung der wichtigsten Gebrauchsmasse, Vorzeichnung für Le Modulor, Boulogne (Seine) 1950, Fondation Le Corbusier, Paris / ProLitteris, Zürich / Refektorium des Klosters Sainte-Marie de La Tourette mit «ondulierender» Verglasung, Foto: Véra Cardot und Pierre Joly, Fondation Le Corbusier, Bibliothèque Kandinsky – Centre Georges Pompidou, Paris / Säulen des Parthenon in Athen, 1911, Fondation Le Corbusier, Paris / ProLitteris, Zürich / stilisierter Pinienzapfen, 1905–1906, Fondation Le Corbusier, Paris / ProLitteris, Zürich
Unten: v.li.n.re.: Glasfenster für den Essbereich seines Appartement-Ateliers in der 24, Rue Nungesser et Coli, Paris, um 1948, Foto: Christian Brändle, 2022 / Bett mit Kopfstütze im Cabanon, Roquebrune-Cap-Martin, FR, 1951–1952, Foto: Seraina Wirz / Zwei angeschwemmte Whisky-Kisten der Marke Ballantine’s, von Le Corbusier bemalt und in der 1956 beim Cabanon errichteten Arbeitsbaracke als Sitzgelegenheiten verwendet, Foto: Christian Brändle, 2022
Ganz unten: High Court in Chandigarh, IND, 1951–1955, Entwurf für die Tapisserie im Court 1, 1954, Fondation Le Corbusier, Paris / ProLitteris, Zürich